Schulanfang

Der Schulanfang wird international als besondere Herausforderung für Kind, Familie, Kindertagesstätte (Kita) und Schule angesehen. In Europa ist er unterschiedlich geregelt, sowohl was das Aufnahmealter und die Aufnahmebedingungen als auch die Gestaltung der Schuleingangsstufe betrifft. Traditionell wird in Deutschland im europäischen Vergleich relativ spät eingeschult. Noch immer werden hier Kinder aus unterschiedlichen Gründen beurlaubt oder zurückgestellt, auch wenn gesetzlich festgeschrieben ist, dass lediglich medizinische Gründe eine Zurückstellung rechtfertigen. Gilt doch als wissenschaftlich belegt, dass eine bloße Zurückstellung noch keine aufholende Förderung sicherstellt, auch dann nicht, wenn die Kindertagesstätte eine sehr gute Arbeit als Bildungsinstitution leistet. Im Gegenteil: Für die meisten Kinder stellt der Übergang in die Schule einen wichtigen Anreiz für eine Neuorientierung dar. Die Grundschule ist also schon am Schulanfang gefordert, sich auf die individuelle Förderung aller Kinder einzustellen, gerade weil sie eine sehr breite Spanne an unterschiedlichen Lernvoraussetzungen mitbringen. Das schließt auch ein, dass alle Kinder grundsätzlich in eine Grundschule eingeschult werden sollten, denn Inklusion gelingt in Bildungseinrichtungen besser, wenn sie von Anfang an selbstverständlich ist.

Dem Umgang mit der Heterogenität am Schulanfang kommt entgegen, dass in allen Bundesländern die Jahrgangsstufen Klasse 1 und 2 als pädagogische Einheit verstanden werden. Unter unterschiedlichen Bedingungen kann diese Einheit zeitlich flexibel in ein bis drei Jahren durchlaufen werden, wobei die jahrgangsübergreifende Schuleingangsphase die Flexibilität erleichtert. Nach wie vor wird jedoch mit dem Schuleintritt in der Regel eine erste Weiche für die Schullaufbahn gestellt. Zum einen hat die Qualität der Schule, ihre sächliche und personelle
Ausstattung wesentlichen Einfluss auf den Entwicklungsweg des Kindes. Zum anderen sind auch Entscheidungen für eine Zurückstellung oder die Einschulung in eine Förderschule von vorhandenen oder mangelnden rechtlichen, materiellen und personellen Möglichkeiten vor Ort abhängig. Chancengerechtigkeit von Anfang an ist somit auch in der Grundschule noch nicht verwirklicht. Am Schulanfang und in den beiden ersten Schuljahren werden jedoch wichtige Grundlagen für die spätere Schullaufbahn gelegt. Dieser Verantwortung muss das Bildungswesen gerecht werden.

Der Grundschulverband fordert

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Recht auf Bildung im Elementarbereich
Für Kinder muss ab dem Kleinkindalter ein familienergänzendes institutionelles Bildungsangebot von hoher Qualität kostenfrei zur Verfügung stehen. Auf die ungleichen familiären Bedingungen des Aufwachsens und insbesondere auf Unterschiede in der sprachlichen Kompetenz und in den Vorerfahrungen der Kinder in den anderen Bildungsbereichen muss mit dafür ausgebildetem Fachpersonal in den Kitas reagiert werden.
2
Aufnahme aller Kinder
Die Hürde Schulanfang muss generell entfallen. Alle schulpflichtigen Kinder sollen in die Grundschule aufgenommen werden, d. h., es erfolgt keine selektierende Feststellung der Schulfähigkeit. Die Grundschule als Schule für alle Kinder entwickelt sich zu einer inklusiven Schule. Dieser Ansatz erfordert, dass die Grundschule sich auf die Unterschiedlichkeit der Kinder einstellt und vorbereitet. Dazu gehört die Kooperation mit den Kindertageseinrichtungen im Einzugsgebiet der Schule sowie Standpunkt Schulanfang mit den Frühfördereinrichtungen und weiteren für die Familien bedeutsamen Einrichtungen vor Ort. Die Abstimmung mit den Kindertageseinrichtungen bezieht sich nicht nur auf die unmittelbaren Übergabegespräche, sondern auch auf die Abstimmung von Bildungskonzepten in den verschiedenen Bildungsbereichen. Dafür müssen auf beiden Seiten Zeiten eingeplant und von der jeweils zuständigen ressourcenzuweisenden Stelle zur Verfügung gestellt werden. Gemeinsame Fortbildungen zu relevanten Themen sollen ermöglicht werden. Damit sich die Grundschule mit ihrem Lernangebot auf die individuellen Lernausgangslagen der Kinder einstellen kann, ist eine sorgfältige, abgestimmte Prozessdiagnostik erforderlich, die an Beobachtungsverfahren aus dem Kindergarten anschließt. Es ist die Aufgabe der Schule, Rahmenbedingungen für verständnisintensives, individuelles und gemeinschaftliches Lernen zu schaffen und zu verankern, damit jedes Kind vom ersten Schultag an erreicht werden kann. Für diese anspruchsvolle Strukturen bildende Arbeit müssen die notwendigen personellen und sächlichen Bedingungen an allen Schulen sichergestellt werden.
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die Inklusive Schuleingangsphase als Einheit der Jahrgangsstufen 1 und 2
Alle Kinder, die im Einzugsgebiet das sechste Lebens jahr vollendet haben, werden in die Grundschule wohnortnah eingeschult. Die Kinder bringen am Schulanfang sehr unterschiedliche Kompetenzen und persönliche Ressourcen mit. Das umfasst sowohl das Vorwissen hinsichtlich schulischer Lernbereiche und Fächer als auch sozial-emotionale Erfahrungen und motorische Voraussetzungen. Während einige Kinder schon Bücher lesen können, fangen andere gerade an, zwischen Buchstaben und Lauten einen Zusammenhang zu erkennen. Einige sind auf die Sicherheit durch eine vertraute Bezugsperson angewiesen, andere gehen schon sehr eigeninitiativ erkundend mit der neuen schulischen Situation um. Deutlich di vergierende Sprachkompetenzen treffen aufeinander: Mehrsprachigkeit, elaborierte Ausdrucksweisen, unterschiedliche Muttersprachen, aber auch ein eingeschränkter Wortschatz oder kaum Deutschkenntnisse. Es gibt Kinder, die zu Beginn des ersten Schuljahres bereits sehr selbstständig arbeiten können und über verschiedene Arbeits- und Lernmethoden verfügen. Andere brauchen noch grundlegende lernmethodische Unterstützung. Bei manchen Kindern stellt sich ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf heraus. Diesen und weiteren unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht zu werden und gleichzeitig den Kindern Lesen, Schreiben, Rechnen, Sachwissen, Lernmethoden, anerkennendes soziales Miteinander und vieles mehr zu vermitteln, ist Aufgabe der inklusiven Schuleingangsphase. Die Einheit der Jahrgangsstufen 1 und 2 muss deshalb so gestaltet und ausgestattet werden, dass die pädagogische und didaktische Arbeit allen Kindern gerecht werden kann. Erforderlich ist eine an inklusiver Pädagogik orientierte didaktische Gestaltung, die Individualisierung mit der Integration der Klasse zu einer Lerngemeinschaft verbindet. Dazu gehören: die Förderung des kooperativen Lernens, die Arbeit in offenen Lernformen mit differenzierten und auf jedem Niveau anspruchsvollen Aufgaben, Themen und Zugängen. Es soll gelingen, die Kinder von ihren Zugängen aus zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt anzuregen, sodass sie über einen längeren Zeitraum Interesse an einem Gegenstand entwickeln können. Eine gute didaktische Basis ist es, mithilfe der Beobachtung der Kinder ihr Lernen zu begreifen, sie zu verstehen und sich mit ihnen über ihre Sichtweisen und Lösungswege wertschätzend auseinanderzusetzen. Zusätzlich zum Deputat werden zeitliche Ressourcen für die besonderen Aufgaben der Schuleingangsphase und für die erforderliche inklusive Unterrichtsentwicklung benötigt.
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die Kooperation verschiedener pädagogischer Professionen
Sowohl für die jahrgangsübergreifende als auch für die jahrgangsgleiche Arbeit werden für die vielfältigen Anforderungen grundschulpädagogische, sozialpädagogische und sonderpädagogische Kompetenzen benötigt. Viele Inhalte erfordern die Arbeit im Team, z. B. wenn einige Kinder lernen, wie bestimmte Laute identifiziert werden können, während sich andere kleine Texte erarbeiten. Insbesondere Kinder aus sozial-emotional belastenden Kontexten brauchen mehr und erweiterte Formen der Zuwendung als andere Kinder. Wenn sonderpädagogische Unterstützung benötigt wird, muss sie den jeweiligen Anforderungen der Kinder entsprechen und in einem Umfang eingesetzt sein, der die Kooperation im Team ermöglicht. Eine inklusive Eingangsphase erfordert eine solide pädagogische und fachdidaktische Ausbildung der Lehrkräfte. Dazu gehört auch die Kenntnis allgemeiner Grundlagen im Bereich der Motorik, der Rhythmik, des künstlerischen Gestaltens und der Beziehungsgestaltung. Erst eine gute Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer im Bereich der Erziehung und Bildung sowie fachdidaktische Kompetenz um wichtige Vorläuferfähigkeiten im Bereich Sprache und Mathematik (bzgl. Spracherwerb, Mehrsprachigkeit, bzgl. der Kompetenzbereiche des Faches Deutsch sowie der allgemeinen und inhaltsbezogenen mathematischen Kompetenzen) sowie für den Sachunterricht mit den entsprechenden diagnostischen Fähigkeiten und Kenntnissen ermöglichen einen guten Start für alle Kinder. Die Arbeit in der Schuleingangsphase ist in den meisten Grundschulen bereits auf einem guten Entwicklungsstand. Um jedoch die Unterrichtsqualität im Sinne einer inklusiven Pädagogik und Didaktik zu erhöhen, müssen Ressourcen für ein geeignetes Unterstützungssystem, für multiprofessionelle Teams und genauso für Zeit, welche die Grundschule für ihre Weiterentwicklung benötigt, bereitgestellt werden. Das ist von besonderer Bedeutung, da der Schulanfang für den Start in die Schullaufbahn eine tragfähige Grundlage schaffen muss.
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die Kooperation verschiedener pädagogischer Professionen
Der jahrgangsübergreifende Unterricht bewährt sich in der Schuleingangsphase besonders für die Flexibilisierung: So können Kinder im Rahmen des individualisierten Lernangebots das Pensum der Jahrgänge 1 und 2 in ein bis drei Jahren bewältigen, je nachdem wie viel Zeit sie dafür benötigen. Ein Wechsel der Kindergruppe ist bei schneller Lernenden nicht erforderlich und im Unterschied zum Klassenwiederholen kann nahtlos weitergearbeitet werden. Am Schulanfang hat sich gezeigt, dass Kinder Verhaltensweisen, Regeln und Arbeitstechniken oft sehr viel besser (und schneller) von anderen Kindern lernen als von Erwachsenen. Die Neuen kennen zudem oft schon aus ebenfalls altersgemischt arbeitenden Kitas Kinder, die ein Jahr vor ihnen in die Schule gekommen sind und an denen sie sich gerne orientieren. Der Kontrast zum Lernen im letzten Kindergartenjahr wird reduziert. Es gelingt den unterschiedlichen Kindern leichter, Erfolgserlebnisse zu bekommen, die für einen guten Schulstart ganz besonders ausschlaggebend sind. Gleichwohl haben ältere Kinder die Möglichkeit, Lerninhalte zu wiederholen und zu vertiefen, indem sie diese den jüngeren Kindern erklären. Alle Kinder sind unabhängig von ihren Lernerfolgen einmal die »Schulerfahrenen« und fühlen sich gegenüber den »Schulneulingen« kompetent. Dabei erwerben sie Selbstwirksamkeit und Kompetenzen, die sie durch Differenzierung in jahrgangsreinen Klassen nicht erreichen würden.

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