Ganztagsschule

Mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel ändern sich die Erwartungen an die Schule und ihren Bildungsauftrag. Dieser Wandel wirkt sich auch auf die Zeiten aus, die die Kinder in der Schule verbringen. Eine moderne Schule ist mehr als ein Ort der Wissensvermittlung. Sie ist eine Stätte der Begegnung von Kindern aus unterschiedlichen Lebenskontexten und Kulturen, sie bietet Möglichkeiten für grundlegende Erfahrungen, für soziale Interaktion, für die Teilhabe der Schülerinnen und Schüler an Entscheidungen über ihren Lernprozess und über die Gestaltung des Schullebens.

Seit 2003 mit dem Finanzierungsprogramm »Investition Zukunft Bildung und Betreuung« die Weichen gestellt und den Bundesländern vier Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen zur Verfügung gestellt wurden, hat sich der Ganztagsschulausbau in Deutschland deutlich weiter entwickelt.

Die Kultusministerkonferenz führt die zunehmende Bedeutung der Ganztagsschule auf zwei Motive zurück:

● mehr Zeit zum Lernen, d. h. die Verbesserung von Bildungschancen und

● die bessere Vereinbarkeit von Schule und Beruf für Eltern.

Ganztagsschulen konkurrieren in Deutschland mit einem zumindest in den Städten gut ausgebauten Netz außerschulischer nachmittäglicher Bildungsangebote. Diese stehen aber nicht allen Kindern in gleichem Maße zur Verfügung. Ganztagsschulen sollen auch nicht nur Kindern aus prekären Lebensverhältnissen ein erweitertes, manchmal auch alternatives Lebens- und Lernumfeld bieten und damit emanzipatorisch wirken: Sie können – wenn sie gut gemacht sind – allen Kindern Bildungsangebote bereitstellen, die weit über die Möglichkeiten des Elternhauses hinausreichen. Sie sind insbesondere ein Feld verstärkter sozialer Erfahrungen.

Auch die Forderung berufstätiger Eltern, ihr Kind während ihrer Arbeitszeit sicher an der Schule untergebracht zu wissen – laut Umfragen liegt der Bedarf inzwischen bei 70 Prozent –, ist berechtigt, ihre Umsetzung muss möglich gemacht werden.

Ganztagsschulen gehören heute in allen Bundesländern zur Schullandschaft dazu, auch wenn es vielfältige Organisationsformen oder Ausbaustufen gibt. Der Grundschulverband begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich, sieht aber gleichzeitig einen erheblichen Verbesserungsbedarf.

Ganztagsschule ist mehr als  die Verlängerung der Schultage

Die zögerliche Entwicklung der Ganztagsschule (primär in Westdeutschland) zeigt sich in einem breiten Spektrum von Organisationsformen, das von traditionellen oder »verlässlichen« Halbtagsschulen mit freiwilligen nachmittäglichen Betreuungsangeboten bis zur gebundenen Ganztagsschule mit obligatorischer Anwesenheit aller Kinder an wenigstens drei Nachmittagen in der Woche reicht. In dieser Vielfalt spiegeln sich die unterschiedlichen Bedarfslagen der Eltern und lokale Entwicklungen wieder. Wie die Erfahrung zeigt, bieten Schulen, die als »offene Ganztagsschule« firmieren, meist keine neuen Lernchancen für alle Kinder, sondern oft eher traditionellen Halbtagsunterricht nach der Stundentafel für alle und zusätzliche nachmittägliche Bildungs- und/oder Betreuungsangebote für den Teil der Kinder, deren Eltern dies wünschen bzw. die auf eine den Unterricht ergänzende Betreuung angewiesen sind.

Dieses Konzept wird den pädagogischen Ansprüchen an eine qualitätsvolle längere Lernzeit ebenso wenig gerecht wie eine bloße Ausdehnung des Fachunterrichts in den Nachmittag hinein. Demgegenüber sind fast alle Grundschulen, die über die Landesgrenzen hinweg als wegweisende Modelle zeitgemäßer Grundschulpädagogik bekannt sind, gebundene Ganztagsschulen. Offenkundig bietet die gebundene Ganztagsschule bessere Möglichkeiten für einen ganztägig durchgestalteten, rhythmisierten Ganztag mit einer sinnvollen Abwechslung von Phasen der Anspannung und Entspannung. Insgesamt besteht nach wie vor erheblicher Entwicklungsbedarf.

Qualitätsstandards sind überfällig

Bisher fehlen bundeseinheitliche Standards für Qualität, Konzeption, Ausstattung und Organisation, sodass eine Vergleichbarkeit oder gar eine verbindliche Definition von Ganztagsschulen nicht möglich ist. Um dem Ziel Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit und damit der Inklusion näher zu kommen, muss die Qualität von Ganztagsschule(n) in den Mittelpunkt der pädagogischen und politischen Diskussion gestellt werden. Fragen nach einer klugen Zeitgestaltung und nach bedeutsamen Qualitätsmerkmalen für den Ganztag müssen der Ausgangspunkt sein, zusammen mit der Überlegung, wie es gelingen kann, 

● dass besonders junge Kinder, aber auch Jugendliche den ganzen Tag über ihre Zeit gern in der Schule verbringen und Mitgestaltungsmöglichkeiten haben;

●dass sie einen (bis zu) 8 Stunden langen Tag in seinen unterschiedlichen Phasen aktiv und interessiert so erleben, dass sie (möglichst) jeden Tag gerne wiederkommen.

Der Grundschulverband fordert

1
Rechtsanspruch auf einen kostenfreien Platz an einer Ganztagsschule
Angesichts der genannten Entwicklungen und Bedingungen muss es einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer guten Ganztagsschule geben. Der Rechtsanspruch umfasst den kostenfreien Besuch einer guten Ganztagsschule mit pro Woche mindestens 34 Stunden schulischer Bildungszeit in der Verantwortung pädagogisch qualifizierten Personals. Alle Kinder nehmen an einem gemeinsamen Mittagessen teil, das nach ernährungswissenschaftlich begründeten Maßstäben zusammengestellt und kostenfrei ist. Auf Wunsch der Eltern werden zusätzlich eine freiwillige Frühbetreuung ab 7.00 Uhr, eine Spätbetreuung bis 18.00 Uhr sowie ein verlässliches Betreuungsangebot in den Ferien angeboten. Diese Leistungen sind kostenpflichtig. Alle Grundschulen sind schrittweise zu qualitätsvollen und inklusiven Ganztagsgrundschulen weiter zu entwickeln. Dabei sind folgende Kriterien zu beachten:
2
Mehr Zeit für das Lernen in rhythmisiert gestalteten Tagesabläufen
Mit längeren schulischen Bildungszeiten für alle Kinder soll die Grundschule den veränderten Lebensbedingungen der heranwachsenden Generation gerecht werden. Alle Kinder benötigen mehr Zeit für Bildung in anregenden Umgebungen. Ganztagsgrundschulen haben einen rhythmisierten Schultag mit Unterricht, Pausen, Essenszeiten und unterschiedlichen Angeboten. Für den Schulalltag bedeutet Rhythmisierung den Wechsel von anstrengenden und entspannten Tätigkeiten, von Ruhe und Bewegung. Grundlage ist ein umfassender Bildungsbegriff, der neben der fachlichen Leistung die Bedeutung sozial-emotionalen Lernens und der individuellen Persönlichkeitsentwicklung hervorhebt.
3
Mehr Raum für ganztägige Bildung
Mehr Zeit und mehr Aktivitäten in der Schule brauchen mehr und vor allem anders gestaltete Räume. Gebäude, Räume, Ausstattung und Schulgelände müssen entsprechend der Altersstruktur der Kinder und Jugendlichen »ganztagsfähig« sein und den Anforderungen von Lernen und Freizeit gerecht werden. Dazu gehört zunächst einmal die Bereitstellung von mehr Fläche pro Kind, insbesondere auch mehr Bewegungsflächen. Die Möglichkeiten einer multifunktionalen Nutzung des vorhandenen Raumpotenzials müssen ergänzt werden durch ganztagsspezifische Räumlichkeiten. Hierzu gehören: eine Schulbibliothek bzw. Mediathek, der Mensa- und Essensbereich, Differenzierungsräume, Rückzugs-/Ruheräume und Arbeitsräume für Kinder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Therapieräume im Kontext der Inklusion (z. B. Kleingruppenräume für Logopädie, Psychomotorikraum u. Ä.).
4
Eine hochwertige Lernumwelt
Das Ambiente, das wir unseren Schulkindern zum Lernen bieten, ist von großer Bedeutung für ihr Wohlbefinden als elementarer Voraussetzung von Lernfreude und Schulerfolg. Je mehr Zeit die Kinder im Schulhaus verbringen, umso mehr wachsen daher die berechtigten Ansprüche an die ästhetische Gestaltung des Gebäudes und der Außenanlagen. Die traditionelle Flurschule wird diesen Ansprüchen selten gerecht. Von daher ist mit der vermehrten Einrichtung von Ganztagsschulen besonders darauf zu achten, dass bei Umbauten und Neubauten nur hochwertige architektonische Entwürfe in Auftrag gegeben werden, die auch jenen Kindern ästhetische Erfahrungen von anspruchsvoller Wohn- und Arbeitskultur bieten, die solche Erfahrungen aufgrund von ökonomischen Einschränkungen im Elternhaus sonst nicht machen können.
5
Leben und Lernen im Ganztag – eine allseitig bildende Lernkultur
Eine gute Ganztagsschule orientiert sich an den Stärken und Interessen ihrer Schülerinnen und Schüler. In vielfältigen Angeboten aus Sport, Musik, Kunst und Theater kann jedes Kind seine besonderen Talente und Fähigkeiten entwickeln. Ein wesentlicher Gelingensfaktor ist die gemeinsame Entwicklung eines pädagogischen Konzepts, das von allen an der Schule Beteiligten (Pädagoginnen und Pädagogen, Eltern, Schülerinnen und Schülern) erarbeitet und getragen wird und auf einer gemeinsamen pädagogischen Grundhaltung als Leitbild basiert.
6
Kooperation und Teamarbeit in einem multiprofessionellen Kollegium
Multiprofessionalität und Teamarbeit machen eine gute Ganztagsschule aus. Unterrichten, Erziehen und Betreuen sind aufeinander bezogene Dimensionen pädagogischen Handelns in der Grundschule – keine organisatorisch und personell trennbaren Bereiche. Damit die unterschiedlichen Kompetenzen der Pädagoginnen und Pädagogen den Kindern zugutekommen, bedarf es aber einer engen Kooperation und gleichberechtigter Teamarbeit. In der Ganztagsschule arbeiten unterschiedliche Professionen auf der Basis eines gemeinsamen Konzepts und Leitbilds und sind für die Entwicklung des Kindes gemeinsam verantwortlich: Lehrkräfte, sozial- und sonderpädagogische Fachkräfte, sozialpädagogische Integrationsfachkräfte, Schulsozialarbeiter/innen, Honorarkräfte und ehrenamtliche Helfer/innen. Damit das gelingt, sind feste Kooperationszeiten und Arbeitsplätze für die Klassenteams einzurichten.
7
Zusammenarbeit im Stadtteil
Die Ganztagsschule bindet einen großen Teil der Zeit von Kindern und Jugendlichen in der Schule. Wichtige Erfahrungen und Bindungen im Umfeld der Schule wie kulturelle, sportliche, musische, künstlerische oder soziale Angebote aus dem Stadtteil werden zur notwendigen Erweiterung schulischer Aufgaben gerade auch in Hinsicht auf Teilhabe an der Gesellschaft. Außerschulische Partner in die Schule zu holen, regelmäßig außerschulische Lernorte zu nutzen, verbindet die Ganztagsschularbeit mit dem sozialen Milieu und dem Wohnumfeld.
8
Beteiligung und Verantwortung
Beteiligung ist mehr als Gremienarbeit. Echte Beteiligung beinhaltet das Übertragen und Übernehmen von Verantwortung. Sie ist ein Kommunikationsprozess, der die gemeinsame pädagogische Grundhaltung und die Umsetzung des Schulkonzepts immer wieder ins Gedächtnis ruft und festigt. Dabei stehen alle am Schulleben Beteiligten in einem wertschätzenden, gleichberechtigten Austausch miteinander. An Ganztagsschulen ist Beteiligung – insbesondere auch der Kinder und ihrer Eltern – eine besonders wesentliche Gelingensbedingung, da hier sehr viele unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse zusammenkommen.
9
Neuregelung von Arbeitszeit und Arbeitsplatz
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den notwendigen Veränderungen in der Entwicklung zur Ganztagsschule und neuen Arbeitszeitregelungen. Lehrerarbeitszeit kann den erweiterten Aufgaben entsprechend nicht mehr auf 45-Minuten-Unterrichtseinheiten reduziert und berechnet werden, sondern muss neben der unterrichtlichen Tätigkeit die weiteren pädagogischen und kooperativen Aufgaben in der ganztägigen Schule sowie die Zusammenarbeit mit Eltern und anderen außerschulischen Partnern ausweisen.
10
Schulbezogene Konzepte mit Prozessbegleitung
Für die Entwicklung der Ganztagsgrundschule gilt es, den Bedingungen der Einzelschule entsprechende Lösungen zu finden. Diese Lösungen müssen dem Erziehungs- und Bildungsauf trag sowie den Standortbedingungen der Schule gerecht werden. Darüber hinaus sind sie an den Bedürfnissen der Kinder nach Spiel und Freizeit sowie den Wünschen der Eltern nach gemeinsam mit den Kindern verbrachter Zeit zu orientieren. Der Aufbau von Ganztagsschulen ist eine komplexe und anspruchsvolle Schulentwicklungsaufgabe. Um ihr Gelingen zu gewährleisten, sind zuverlässige Rahmenvorgaben und professionelle Prozessberatung erforderlich.
11
Sicherung der Ressourcen
Alle Grundschulen sind durch eine ihrer Aufgabe entsprechende personelle, sächliche und räumliche Ausstattung in die Lage zu versetzen, sich zu echten Ganztagsschulen zu entwickeln. Der Grundschulverband lehnt jede Form von »Billiglösungen« im Bereich der institutionalisierten Kindererziehung ab. Die Finanzierung aller Ressourcen muss vom Schulträger, vom Bundesland, aber auch vom Bund in angemessener Weise gesichert sein. Das Kooperationsverbot zwischen dem Bund und den Ländern darf an dieser Stelle nicht zulasten der Kinder gehen, die in Deutschland unter ungleichen Bildungsbedingungen leben und lernen. Angesichts des aktuellen Personalmangels ist die notwendige Qualität vermutlich nur durch einen schrittweisen Ausbau von drei auf fünf Tage pro Woche zu sichern. Dafür ist ein verbindlicher Stufenplan erforderlich, bei dessen Umsetzung die hier genannten Qualitätsmerkmale zu beachten sind.

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