Inklusive Bildung

Die »Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« (BRK) hat Bewegung in die deutsche Schulentwicklung gebracht. Die BRK gilt seit dem 26. März 2009 auch in Deutschland und verpflichtet uns zur Überwindung des separierenden allgemeinen Schulwesens: Schulen müssen sich zu inklusiven Lernorten entwickeln. Inklusive Schulen nehmen alle Kinder und Jugendlichen auf, begreifen die Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler in jeder Lerngruppe als Normalität und orientieren daran einen sowohl kooperativen als auch individualisierenden, vielfältig differenzierenden Unterricht, der die Heterogenität der Kinder als Lernchancen für alle im Blick behält. Grundsatz der inklusiven Schule: Kein Kind beschämen, kein Kind zurücklassen, niemanden aussondern.

Die BRK fordert Barrierefreiheit für alle in allen Lebensbereichen. Sie erklärt Bildung als Menschenrecht und fordert gleichwertige Bildung für alle. Nach wie vor hat Deutschland in allen 16 Bundesländern auf unterschiedliche Weise gegliederte, separierende Schulsysteme. Gemeinsam sind ihnen nur die – bis auf Ausnahmen – 4­jährige Grundschule, das Gymnasium und diverse Sonderschulen. Im Sekundarbereich des allgemeinen Schulwesens gibt es viergliedrige, dreigliedrige und zunehmend zweigliedrige Systeme sowie mehr oder weniger und von Land zu Land unterschiedliche Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen. Gemeinsam ist allen Bundesländern auch immer noch, dass die pädagogische Arbeit der Grundschulen durch den Auslesedruck der verschiedenwertigen Schulen des Sekundarbereichs nachhaltig behindert wird.

Die »für alle gemeinsame Grundschule«, wie sie von der deutschen Nationalversammlung am 11. August 1919 im Rahmen der neuen Reichsverfassung beschlossen wurde und wie sie selbstverständlicher Standard einer demokratischen Gesellschaft sein sollte, ist in Deutschland immer noch nicht Realität. Auch die Grundschule orientiert sich immer noch zu sehr am Bild homogener Lerngruppen mit normorientierter Vergleichbarkeit – trotz positiver Entwicklungen beim Aufbau jahrgangsübergreifender Lerngruppen und der, unterschiedlich häufigen, inklusiven Beschulung von Kindern mit Behinderungen und von Kindern mit Fluchterfahrungen sowie Migrationshintergrund.

Es kann in der Schule keine homogenen Lerngruppen geben, weil Kinder verschieden sind: Sie wachsen in unterschiedlichsten Familienformen und ­situationen auf, mit verschiedenen Muttersprachen und gesellschaftlich, sozioökonomisch und kulturell voneinander abweichenden vor­ und außerschulischen Bildungserfahrungen, sie lernen langsamer oder schneller, sie haben unterschiedliche Lernbedürfnisse. Solche Unterschiede werden in vielen Schulen aber oft noch als Störfaktor wahrgenommen, führen zum »Sitzenbleiben« oder zur Aussonderung in andere Schulformen. Selbst an den sonderpädagogischen Einrichtungen wird immer noch diskutiert, ob dies der richtige Förderschwerpunkt sei, Kinder als »Grenzfälle« bezeichnet und an andere Einrichtungen abgeschult. Meist schon nach der 4. Klasse – also im internationalen Vergleich ungewöhnlich früh – werden die Kinder entsprechend ihrer vermuteten Leistungsfähigkeit auf verschiedenwertige Schularten des Sekundarbereichs sortiert und Kinder mit Beeinträchtigungen und »Lernschwierigkeiten« werden immer noch zu hohen Anteilen aus der allgemeinen Schule herausgenommen und in sonderpädagogischen Einrichtungen unterrichtet. Dabei entscheidet der sozioökonomische Status nach wie vor außergewöhnlich stark über die schulischen Bildungsgänge. Kinder mit Migrationshintergrund sind hiervon besonders betroffen.

Zwar sind in Folge der UN­Behindertenrechtskonvention in den letzten Jahren in allen Bundesländern vielfältige Konzepte inklusiver Bildungsangebote entwickelt und umgesetzt worden. Jedoch zeigt sich aktuell ein Rollback in vielen Bundesländern: Gesetzliche Rahmenbedingungen werden wieder eingeschränkt und die Diskussion erfolgt auf der Basis eines verkürzten Verständnisses von Inklusion (Fokus Behinderung). Doch die Forderungen nach Respektierung der heterogenen Lerngruppen durch differenzierenden Unterricht wachsen, Lehrerbildung und Fortbildungsangebote für Pädagoginnen und Pädagogen werden entwickelt, Expertenkommissionen für neue Schulkonzepte eingerichtet, Modelle für »inklusive Schule« erprobt, Schulgesetze geändert. Der von der Bundesregierung 2011 eingereichte Erste Staatenbericht zur bisherigen Umsetzung der UN­Konvention in Deutschland wurde durch die Kommission der UN­Behindertenrechtskonvention kritisch bewertet. Insbesondere zeigte sich die Kommission »besorgt darüber, dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in dem Bildungssystem des Vertragsstaats segregierte Förderschulen besucht« und empfahl umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan und Ziele zu entwickeln, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem herzustellen, einschließlich der notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen, »das segregierte Bildungssystem zurückzubauen« und »die Schulung aller Lehrkräfte auf dem Gebiet der inklusiven Bildung« sicherzustellen (UN CRPD/C/DEU/CO/1, 13.5.2015).

Die General Comments zum Artikel 24 der UN (September 2016) zeigen auf, dass es sich bei dem Recht auf inklusive Bildung »um ein fundamentales Menschenrecht von allen Lernenden« handelt. Es ist zudem »ein Recht der
individuellen Lernenden und nicht, im Falle von Kindern, das Recht der Eltern oder Erziehungsberechtigten. Elterliche Verantwortlichkeiten in dieser Hinsicht sind dem Recht des Kindes untergeordnet« (vgl. ebd.) Damit entsprechen die Regelungen vieler Schulgesetzgebungen (z. B. Elternwahlrecht oder Haushaltsvorbehalte) nicht den menschenrechtlichen Vorgaben. Erforderliche strukturelle Vorgaben, Ziele und Entwicklungspläne sowie die erforderlichen finanziellen Mittel für den Umbau des deutschen Schulwesens sind nicht überall gegeben. Mit dem scheindemokratischen Argument des »Elternwahlrechts« wird der Erhalt des »Sonderschulsystems« neben der allgemeinen Regelschule weiterhin zu sichern versucht – was die Investitionen in den Aufbau eines flächendeckenden inklusiven Bildungssystems zudem einschränkt.

Der Grundschulverband fordert

Die Grundschule ist zur Grundstufe einer für alle Kinder und Jugendlichen gemeinsamen Schule weiterzuentwickeln. Im gemeinsamen Unterricht bis zum Ende der Pflichtschulzeit werden alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich individuell gefördert und im eigenverantwortlichen Lernen unterstützt, so wie es in der absoluten Mehrheit der europäischen Staaten (mit Ausnahme von 5 Ländern, darunter die deutschsprachigen) bis mindestens zum achten Schuljahr erfolgt. Indem sie mit­ und voneinander lernen, übernehmen sie auch füreinander Verantwortung.

Die Grundschule ist als Ganztagsschule und Bildungszentrum im Stadtteil, in der Kommune oder Gemeinde einzurichten. Die Entwicklung der inklusiven Schule muss in konsequenter Kooperation mit Pädagoginnen und Pädagogen, Schülerinnen und Schülern sowie mit den Eltern erfolgen.

Für die inklusive Schule hält der Grundschulverband folgende Maßnahmen für vordringlich:

1
Individualisiertes / personalisiertes Lernen, binnendifferenzierte Lernangebote
Wie auch immer schulische Lerngruppen organisiert werden, sie sind immer heterogen. Grundsätzlich können deshalb von den Kindern einer Lerngruppe zur gleichen Zeit nicht die gleichen Lernleistungen und Lernentwicklungen erwartet werden. Das verlangt Methodenvielfalt, Angebote unterschiedlicher Lernzugänge sowie eine weitgehende Individualisierung der von den Kindern zu erreichenden Ziele, der Formen und der Zeitpunkte zur Überprüfung der individuell erbrachten Leistungen. Alle in Grundschulen tätigen Pädagoginnen und Pädagogen müssen in Aus­, Fort­ und Weiterbildung befähigt werden, die natürliche Diversität der Lernenden anzuerkennen sowie sie als Ausgangspunkt für die didaktisch­methodische Gestaltung von Lernumgebungen, Lernangeboten und Zielen im Interesse der individuellen Lernentwicklungen von Schülerinnen und Schülern zu berücksichtigen. Die Grundschulen müssen ein Mehr an flexiblen multiprofessionellen Personal­ und Sachressourcen erhalten, um individuelle inklusionsförderliche Umgebungen zu schaffen (Klassenfrequenz, Raumausstattung, Lern­ und Unterrichtsmaterialien).
2
Prozessorientierte Rückmeldungen
Die Leistungsbewertung durch Zensuren (Noten) ist abzuschaffen, da sie weder individuelles Lernen und individuelle Lernfortschritte differenziert bewerten kann noch die Lernbereitschaft aller Kinder nachhaltig fördert. Es sind Bewertungssysteme einzusetzen, die Lernentwicklungen und erreichte Kompetenzen für jedes Kind prozessorientiert und kriteriengestützt rückmelden und dokumentieren sowie Förderansätze aufzeigen, die formuliert und präzisiert werden müssen.
3
Alle Kinder und Jugendlichen (ohne Ausnahme) haben das Recht auf inklusive Schule
Praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen aller Arten und Grade in einer für alle gemeinsamen Schule erfolgreich lernen und gefördert werden können und sich darüber hinaus Schule und Unterricht dadurch zum Vorteil aller verändern. Die wohnortnahe Beschulung aller wirkt sich positiv auf die sozialen Beziehungen im Lebensumfeld der Kinder aus. Dazu bedarf es neben dem »anderen Blick« auf die heterogene Lerngruppe personeller und materieller Unterstützung, die unbedingt zu schaffen, ggf. zu verbessern und zu sichern ist. Formen besonderer pädagogischer Förderung, sozialpädagogischer Begleitung, pflegerischer Unterstützung oder andere Formen der Assistenz müssen in jeder Schule integriert sein und die interdisziplinäre Kooperation im Rahmen einer inklusiven Bildung muss zum Bestandteil der Ausbildung aller Lehrämter und pädagogischen Studiengänge werden. Der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung für alle (UNESCO) ist unverzüglich und uneingeschränkt in den Schulgesetzen der Länder zu verankern.
4
Besondere Unterstützung von Kindern mit Migrationshintergrund
Die schulische Situation für Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Muttersprache und Herkunft, inklusive jener mit Fluchterfahrung oder Asylhintergrund, ist entschieden zu verbessern. Diese Kinder und Jugendlichen müssen sowohl in vorschulischen Einrichtungen, im inklusiven Unterricht als auch bevorzugt in ganztägiger Schulbetreuung in ihrer Sprachentwicklung gefördert werden. Bisherige Ansätze in dieser Richtung müssen verstärkt und ausgeweitet, bürokratische Hindernisse abgebaut werden. Alle Lehrkräfte sollten für die Herausforderungen des Lernens und des Unterrichtens in migrationsbedingt heterogenen Lerngruppen und für Standpunkt Inklusive Bildung Deutsch als Zweitsprache durch Aus­ und Fortbildung vorbereitet sein bzw. die Möglichkeiten der Nachqualifizierung erhalten.
5
Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen
Um im gemeinsamen Lernen Kindern mit allen Begabungen entsprechend ihrer unterschiedlichen Lern­ und Förderbedürfnisse gerecht zu werden, brauchen Grundschulen zusätzliche Fachkräfte unterschiedlicher Professionen, die als Teil des Kollegiums zuverlässig zur Verfügung stehen. Zeiträume für die erforderliche Zusammenarbeit in den multiprofessionellen Teams sind in neuen Arbeitsplatzbeschreibungen und in den Schulentwicklungskonzepten für inklusive Schulen zu berücksichtigen und auszuweisen. Die gute Kooperation in diesen Teams bedarf der Unterstützung.
6
Anregende Räume für die Kinder, zweckmäßige Arbeitsplätze für die Pädagoginnen und Pädagogen
Für das ganztägige Schulleben mit vielfältigen Unterrichts­ und Freizeitangeboten brauchen Kinder mehr Raum. Schulbau und Schulgelände müssen anregend und barrierefrei gestaltet sein und auch besondere Ansprüche einzelner Kinder berücksichtigen. Die in den Grundschulen tätigen Pädagoginnen und Pädagogen brauchen (insbesondere im Ganztag) zweckmäßig eingerichtete Arbeitsplätze, Räume zum Austausch von didaktischen Materialien und für ihre kooperative Tätigkeit. Die Musterraumprogramme sind entsprechend zu ändern und die Investitionen in bauliche Maßnahmen sind am Bedarf der inklusiven Ganztagsschule auszurichten.

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